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Erik Wöll & Heinz Eppensteiner

Wer ein paar Jahre nicht mehr in Annaberg war, wird das Skigebiet kaum wiedererkennen. Der Parkplatz und das Kassenhaus – samt Restaurant „Teichstüberl“ – sind ebenso neu wie das JUFA-Hotel, das vis-à-vis davon im Herbst 2015 eröffnet wurde. Das Selbstbedienungsrestaurant im Hotel heißt „Reidlhütte“ – so wie das alte, schon recht baufällige Lokal, das im Gegenzug abgerissen wurde. Dafür gibt es bei den Reidl-Liften seit dem Winter 2016/17 eine neue Piste: die nach dem niederösterreichischen Skipionier Mathias Zdarsky benannte Zdarsky-Piste. Sie wurde vor allem als Trainings- und Rennpiste konzipiert, denn obwohl sich Annaberg in erster Linie als Familienskigebiet versteht, finden hier jeden Winter an die 40 Rennen statt – von Firmenrennen über Schulmeisterschaften bis zum FIS-Slalom.

Früher waren die Rennen hauptsächlich auf dem Pfarrboden gefahren worden, dem unmittelbar unterhalb des Orts gelegenen Teil des Skigebiets. Dieser aber wurde 2016 stillgelegt, der Sessellift ist bereits abgebaut. Der Pfarrboden war aufgrund seiner Lage schwieriger zu beschneien und kam deshalb auf weniger Betriebstage als die Reidl-Seite; dazu kam, dass die steilen Abfahrten am Pfarrboden nur von relativ wenigen Annaberg-Gästen frequentiert wurden. Kurz: Wirtschaftlich gab es gute Gründe für die Schließung. Für Pfarrboden-Fans ist der Verlust trotzdem bitter. Und natürlich für die Skirennläufer – aber die haben jetzt ja die Zdarsky-Piste.

Die neue Piste befindet sich am – von unten gesehen – rechten Rand des Skigebiets, sie ist 450 Meter lang, mittelsteil und leicht kupiert. Errichtet wurde sie von August bis Oktober 2016, die dafür notwendigen Rodungen wurden anstandslos genehmigt. „Das war kein großes Thema, weil Lilienfeld der waldreichste Bezirk Mitteleuropas ist“, sagt Karl Weber, der Geschäftsführer der Annaberger Lifte. Eine offizielle Homologierung durch die FIS steht noch aus, grundsätzlich ist die Strecke aber so konzipiert, dass hier internationale Slaloms und Riesentorläufe stattfinden können, im Juniorenbereich sogar Super-G-Rennen. Wobei die neue Piste nur das Mittelstück der bis zu 1050 Meter langen Mathias-Zdarsky-Rennstrecke darstellt. Diese beginnt mit der steilen Söllnreith-Abfahrt, geht dann in die Zdarsky-Piste über und mündet schließlich in die eher flache Gassneralm. Je nach Bedarf kann von vier verschiedenen Stellen gestartet werden; für das Ziel stehen drei Optionen zur Verfügung.

Regelmäßig frequentiert wird die Rennstrecke von den Schülerinnen und Schülern der Michaela-Dorfmeister-Mittelschule im eine halbe Autostunde entfernten Lilienfeld, wo Skisport ein Schwerpunkt ist. In den Wintermonaten wird drei Mal wöchentlich im Schnee trainiert, meistens in Annaberg. Heute ist Professor Erik Wöll mit seiner Snowboardgruppe da. Dem Pfarrboden trauert er nicht nach: „Für die Snowboarder war das nicht der optimale Hang, gerade für den Nachwuchs sind die flacheren Pisten besser.“ Der 51-jährige Wöll war einer der ersten Niederösterreicher, die sich dem Snowboardsport verschrieben haben. „Als ich zum ersten Mal ein Snowboard ausprobiert habe, war das gleich so ein unbeschreibliches Gefühl, dass ich dabei hängen geblieben bin.“

In den Achtzigerjahren war das nicht weit von Annaberg gelegene Hohenberger Gschwendt, wo es damals noch zwei Schlepplifte gab, eines der wenigen Skigebiete, in denen Snowboarder überhaupt willkommen waren. Ein anderer Aficionado, der Fotograf Stefan Fiedler, hatte dort die erste Halfpipe Europas gebaut, und Anfang Jänner 1987 fand auf dem Hohenberger Gschwendt das erste Snowboardrennen Österreichs statt. Wöll war dabei, und auch an den ersten Weltcuprennen nahm er teil. Anfang der Neunziger wurde er dann Lehrer, seither widmet er sich dem Nachwuchs. Neben dem Job in Lilienfeld unterrichtet Wöll auch am Gymnasium in St. Pölten, außerdem ist er Präsident des Vereins Union Trendsport Weichberger, der Weltklasse-Boarder wie Benjamin Karl, Maria Ramberger oder Clemens Schattschneider hervorgebracht hat.

Nach Snowboardtalenten in Niederösterreich sucht Wöll mit seinem Verein systematisch. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der vom Land Niederösterreich alljährlich veranstalteten Aktion „SkiKids“ – kostenlose Ski- oder Snowboard-Kurse in niederösterreichischen Skigebieten – werden angeschrieben und nochmals zu einem Schnuppertraining eingeladen. „Da melden sich jedes Mal um die 20 Kinder, so holen wir uns Talente. Snowboarder fangen ja meistens erst mit 10, 11 Jahren an, das ist für uns zu spät, wir brauchen wirklich die ganz Jungen.“ Auch für die Mittelschule in Lilienfeld wurden auf diese Weise schon neue Schüler rekrutiert. Die besten Snowboard-Kinder wechseln nach der vierten Klasse dann an eines der Schwerpunktgymnasien in Schladming oder Stams. „Den Eignungstest schaffen sie leicht, da ist noch nie ein Niederösterreicher abgewiesen worden“, sagt Wöll stolz. Der Snowboardschwerpunkt, den es in der Mittelschule Lilienfeld seit vier Jahren gibt, ist der einzige seiner Art in Österreich. „Wir sind die Nachwuchsschmiede Nummer eins.“ Bei den niederösterreichischen Landesschulmeisterschaften, die im Februar in Annaberg stattgefunden haben, waren mehr als 300 Jugendliche am Start. „Da liegen wir vor allen anderen Bundesländern.“

Nach dem Boom der Neunzigerjahre ist Snowboarden wieder zu einer Randsportart geworden, so wie Niederösterreich unter den Wintersportländern eine Nebenrolle spielt. Zusammen aber sind Snowboarden und Niederösterreich ein starkes Team. So gesehen ist es stimmig, dass die neue Piste in Annaberg nach Mathias Zdarsky benannt wurde. Der aus Mähren stammende Skipionier ist dafür verantwortlich, dass ausgerechnet das niederösterreichische Städtchen Lilienfeld zu einer Wiege des alpinen Skilaufs wurde.

Und das kam so: Nachdem Zdarsky (1856–1940) ein paar Jahre als Lehrer gearbeitet hatte, machte er eine kleine Erbschaft (heutige Kaufkraft: etwa 50.000 Euro) und suchte einen Ort, an dem er sich in Ruhe seinen Studien widmen konnte. In der Zeitung fand er einen baufälligen Hof am Rand von Lilienfeld, den er 1889 erwarb, renovierte und nach eigenen Plänen umbaute. Um in den damals noch schneereicheren Wintern voranzukommen, bestellte sich Zdarsky ein Paar norwegische „Schneeschuhe“, stellte aber fest, dass man mit diesen etwa drei Meter langen Latten nur Ski laufen, nicht aber Ski fahren konnte. In den Wintern bis 1896 erfand Zdarsky eine neue Bindung, die im Prinzip wie die heutigen Tourenbindungen funktionierte, sowie kürzere Skier und entwickelte mit dem neuen Material eine neue Skitechnik, die auch das Befahren steiler Hänge möglich machte. Für viele ist Zdarsky deshalb der Erfinder des alpinen Skilaufs.

Um die Überlegenheit seiner Technik im steilen Gelände zu beweisen, forderte Zdarsky führende Vertreter der „Norweger“ zu einem Vergleichskampf auf der Breiten Ries am Schneeberg. Auf dem Muckenkogel, dem Lilienfelder Hausberg, veranstaltete er am 19. März 1905 den ersten Torlauf der alpinen Skigeschichte. Vor allem aber löste der Pionier einen regelrechten Run auf Lilienfeld aus: In eigens eingesetzten „Sportzügen“ reisten Tausende Wienerinnen und Wiener an, um sich von Zdarsky in kostenlosen Massenkursen in der neuen Skitechnik unterweisen zu lassen; das Lehrbuch „Lilienfelder Skifahr-Technik“ erreichte 17 Auflagen.

Seit 1981 ist Zdarsky in Lilienfeld ein Museum gewidmet, und auf den Pisten kümmert sich die Nostalgie-Skigruppe Traisen seit 1985 um sein Erbe. Die Damen und Herren der Gruppe sind historisch kostümiert auf Holzskiern ohne Stahlkanten und mit nur einem langen Stock unterwegs; sie haben die Lilienfelder Technik schon im Rahmenprogramm von Weltcuprennen, Weltmeisterschaften und Olympischen Winterspielen demonstriert. Jedes Jahr im März veranstalten sie auf dem Muckenkogel ein Revival des Zdarsky-Torlaufs, und am 25. Februar 2017, Zdarskys Geburtstag, stattete die Nostalgie-Skigruppe auch der neuen Zdarsky-Piste in Annaberg einen Besuch ab.

Das Zdarsky-Ski-Museum ist, als wichtigster Teil des Bezirksheimatmuseums, in einem schönen gotischen Torturm aus dem 14. Jahrhundert untergebracht; neben dem Wintersportmuseum in Mürzzuschlag und dem Landesskimuseum in Werfenweng ist es eines von drei Fis-Museen in Österreich. Im Zdarsky-Ski-Museum wird aber nicht nur der Skipionier Mathias Zdarsky gewürdigt, sondern auch sein Wirken als Künstler, Erfinder und Lebensreformer. Zum Beispiel hat sich Zdarsky ein Schwimmbad mit Sprungturm und natürlicher Vorwärmanlage gebaut, unter anderem sind auch von ihm selbst gezimmerte Möbelstücke zu sehen. Das Museum ist zudem Sitz des Zdarsky-Archivs, immer wieder sind Skihistoriker aus Japan oder den USA zu Gast in Lilienfeld.

Geleitet wird das Zdarsky-Ski-Museum seit jeher ehrenamtlich von Heinz Eppensteiner. Als Gemeindebediensteter ist er Ende Februar 2017 in Pension gegangen, als Museumsdirektor ist er mindestens noch bis 2018 im Amt. „Dann werden wir sehen, ob sich wieder einer findet, der sich 35 Jahre lang jeden Samstag und Sonntag freiwillig da reinsetzt“, sagt Eppensteiner. Trockener Nachsatz des pensionierten Standesbeamten: „Ich warte eh schon auf die Scheidung.“

Dass in Annaberg eine Rennstrecke nach Zdarsky benannt wurde, hält Eppensteiner übrigens für keine gute Idee. Nach dem ersten Torlauf 1905 – ein Modell der Strecke im Maßstab 1:1000 ist im Museum zu besichtigen – war der Pionier vom Wettkampfgedanken abgekommen; in späteren Rennen ging es nur noch darum, eine bestimmte Richtzeit zu erreichen und sturzfrei zu bleiben. Eppensteiner ist sich sicher, dass moderne Skirennläufer dem Puristen Mathias Zdarsky ein Dorn im Auge gewesen wären. „Die hätte er mit Stöcken verjagt! Die Tourengeher und die Schneeschuhwanderer von heute wären in seinem Sinn.“

Nachdem er uns durch die Sammlung geführt hat, erzählt der Kustos noch eine Anekdote. Nach dem Selbstmord von Kronprinz Rudolf Anfang 1896 in Mayerling kam das Gerücht auf, er wäre gar nicht gestorben, sondern bloß untergetaucht. Und als im selben Jahr Mathias Zdarsky, der Rudolf ein bisschen ähnlich schaute, in Lilienfeld auftauchte, sahen manche in ihm den Kronprinzen, der eine neue Identität angenommen hat. Natürlich kann Heinz Eppensteiner belegen, dass das Unsinn ist. Trotzdem wird die Legende in Lilienfeld heute noch gern erzählt.